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Lärm: Zu viel Krach, wohin man hört

Zwei Drittel der Bevölkerung fühlen sich durch Lärm gestört. Das zeigt eine neue Studie. Die Belastung wird aber noch zunehmen – jetzt regt sich Widerstand.

9. Oktober 2000

Wenn sich Jürg Fässler abends zur Ruhe legt, wird es nie still. Ein Pfeifen im linken Ohr stört den Schlaf. «Wie 1000 Grillen im Kopf», sagt der Chemiker. Jürg Fässler ist ein «Dezibel-opfer». Mit Gehörschutz ausgerüstet, sah er sich 1997 die Zürcher Street-Parade an. Die Musik war sehr laut. Das leichte Pfeifen nach dem Fest beunruhigte ihn vorerst nicht, doch plötzlich war er extrem geräuschempfindlich. Diagnose: Gehörschaden – bis heute nicht behandelbar.

An einer schweren Herzkrankheit leidet der Rentner Hans G. Das Fenster seines Schlafzimmers öffnet sich gegen den Parkplatz eines Restaurants. Immer wieder reissen ihn Gespräche, Gelächter oder knallende Autotüren aus dem Schlaf. Für die Ärzte ist klar: Ausgelöst wurde die Krankheit durch die «lärmbedingten dauernden Schlafstörungen».

Immer grösseres Umweltproblem

Die beiden Männer sind offensichtliche Lärmopfer. Noch weiter verbreitet aber ist das stille Leiden. Das zeigt eine neue Analyse. «64 Prozent der Schweizer fühlen sich an einem oder mehreren Orten durch Lärm gestört», schreibt der Sozialpsychologe Alexander Lorenz in seiner Doktorarbeit. In einer repräsentativen Umfrage hörte sich Lorenz bei rund 1000 Personen um. Fazit: Der Lärm des Strassenverkehrs wird zusammen mit den Autoabgasen als grösstes Umweltproblem im Land wahrgenommen. Ein detaillierter Blick auf die Resultate offenbart ein vielschichtiges Bild:

Jede dritte Person fühlt sich im Kaufhaus oder im Laden durch Lärm belästigt. In der «Hitparade» der lärmigen Orte liegt damit der Einkaufsort an der Spitze – vor dem Quartier, dem Arbeitsplatz, dem Wohnhaus oder dem Freizeitort. In den Geschäften wird hauptsächlich die Hintergrundmusik als störend und zu laut empfunden.
An Lärm gewöhnt man sich offenbar nicht. Befragte, die den grössten Teil ihres Lebens in der Stadt verbracht haben, klagen häufiger über Lärm als Personen, die auf dem Land aufgewachsen sind.
Frauen fühlen sich durch Lärm stärker belästigt als Männer. Frauen reagieren auch häufiger mit Ärger, Aggression und Wut.
Für eine ruhigere Wohnung würden 54 Prozent der Befragten einen höheren Mietzins bezahlen – in der Regel zwischen 200 und 500 Franken mehr pro Monat.
Die wenigsten Lärmopfer handeln. 62 Prozent der von Lärm geplagten Personen geben an, nichts unternommen zu haben. Die Gründe sind laut Alexander Lorenz unerforscht: «Ob dieses "Nicht"-Verhalten als Hilflosigkeit, Gleichgültigkeit oder Resignation zu interpretieren ist, bleibt offen.»

Lärmschutz kostet viel Geld

Eine ernüchternde Bilanz. Eigentlich müsste die Lärmschutzverordnung (LSV) von 1986 die Bevölkerung «vor schädlichem und lästigem Lärm schützen». Erfüllt ist das Postulat auch nach bald 15 Jahren bei weitem nicht. «Der Lärmschutz ist ein Kostenfaktor, dessen man sich gern entledigen möchte», sagt der Akustiker Robert Hofmann.

Ein Blick auf die Strasse offenbart die Misere. Rund 80 Prozent des störenden Lärms verursacht der Verkehr – allen voran Autos, Lastwagen und Motorräder. 30 Prozent der Bevölkerung sind einem Strassenlärm ausgesetzt, der laut dem Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft (Buwal) «als kritisch bezeichnet werden muss». Bis Ende 2002 müsste dieses Problem laut LSV beseitigt sein – mit neuen Strassenbelägen, tieferem Tempo, Schutzwänden oder Isolationsfenstern. Doch sind erst rund 35 Prozent der Strassen saniert – die Frist muss verlängert werden.

Die Situation ist vertrackt. Von «massiven Versäumnissen der Kantone und Gemeinden» spricht der Verkehrs-Club der Schweiz (VCS). Tatsächlich stecken die Planer das knappe Geld lieber in neue Strassen als in Lärmbauten. Hinzu kommen praktische Probleme. «Innerorts fehlt häufig das vernünftige Rezept», sagt Beat Marty vom Luzerner Amt für Umweltschutz. Wände kommen selten in Frage, und Schallschutzfenster sind laut Marty «eigentlich eine unbefriedigende Symptombekämpfung». Eine weitere Schwierigkeit: «Die Zunahme des Verkehrs macht viele Massnahmen sofort wieder zunichte», sagt Urs Jörg, Chef Lärmbekämpfung im Buwal.

Es kommt noch schlimmer. In einer neuen Umfrage sagen 100 Fachleute voraus, dass der Trend zu noch mehr Mobilität ungebrochen anhält. So soll der Verkehr bis zum Jahr 2020 auf Strasse und Schiene um über 30 Prozent zunehmen – in der Luft gar um fast 60 Prozent. Die Experten haben deshalb «wenig Hoffnung», dass sich Abgase und Lärm stark reduzieren lassen.

Schöne Worte, aber keine Taten

Auch aus der Politik kommen wenig ermunternde Signale. Zwar betonte der Bundesrat jüngst, dass er «der Lärmschutzproblematik grosse Bedeutung beimisst». Sobald es aber konkret wird, sieht die Sache anders aus.

Erstes Beispiel: die Flughäfen. Im April fixierte der Bundesrat den Lärmgrenzwert für Flughäfen bei 65 Dezibel – die Expertenkommission hatte 60 Dezibel vorgeschlagen. Die neuen Vorgaben ermöglichen bis zu dreimal mehr Starts und Landungen. Und: Die Flughafenbetreiber sparen viele hundert Millionen Franken für Schallschutzfenster. «Die Privilegierung erfolgt aus wirtschaftlichen Gründen», räumte Umweltminister Moritz Leuenberger ein. Der Flughafen Zürich sei für die Schweiz «von herausragender Bedeutung».

Der Aufschrei war laut – speziell im Raum Zürich. Mit der Regierung «gar nicht einverstanden» ist auch der Physiker Robert Hofmann, Mitglied der Expertenkommission. «Die aus der Störung abgeleiteten Grenzwerte dürfen nicht durch Machbarkeitskriterien manipuliert werden», sagt der Akustiker. «Sonst verlieren sie ihre Grundlage.»

Was Robert Hofmann als «ominöse politische Justierung von Grenzwerten» umschreibt, ist allerdings nicht neu. Jede Lärmquelle wird nach einer anderen Methode gemessen und berechnet. Der Dauerlärm einer Strasse kann nicht direkt mit den kurzen Knallern im Schiessstand verglichen werden. Das gibt Spielraum.

Hofmanns süffisantes Fazit: Der Grenzwert der Strasse sei «ziemlich sauber», die Bahn dagegen habe «einen saftigen Bonus» erhalten. Die Schützen wiederum hätten «durch aufopferndes Lobbying im Parlament zwei Dezibel geholt». Diesen Moment habe die Industrie verschlafen und sei «mit einem Malus von fünf Dezibel erwacht». Dafür habe sich die Militärfliegerei «einen stattlichen Bonus gefischt».

«Einbunkern» der Opfer

Zweites Beispiel: die Neat. Im Juni endete die «umfassende Interessenabwägung» der Regierung mit einer Niederlage für den lärmgeplagten Kanton Uri. Statt die Neat-Bahnlinie in der Reussebene unterirdisch zu führen, beschloss der Bundesrat eine offene Talvariante. Die geplante Überholanlage beim Tunnelportal Erstfeld könne bei der Bergvariante nicht gebaut werden, hiess es. Diese sei aber notwendig, damit «die erforderliche Güterkapazität bereitgestellt» werden könne. Dennoch will der Bundesrat die Anliegen Uris «sehr, sehr ernst» nehmen. Nicht zum ersten Mal fühlt sich die Urner Regierung buchstäblich «überfahren».

Drittes Beispiel: der Bahnlärm. Rund 265000 Personen sind übermässigem Bahnlärm ausgesetzt. Für die Sanierung versprach der Bundesrat 1998 vor dem Neat-Urnengang ein «Kostendach von 2,3 Milliarden Franken». Geplant sind der Umbau der Waggons und Lokomotiven bis ins Jahr 2009 sowie Lärmschutzwände und Schallschutzfenster bis 2015.

Bereits drei Monate später war der Betrag auf 1,8 Milliarden gesunken. Das Ziel sei billiger zu erreichen, hiess es – und zwar «aufgrund des technischen Fortschritts, vor allem beim Rollmaterial». Doch statt mit dem Geld zusätzliche Lärmschutzwände zu bauen, wird fast ein Drittel der Betroffenen hinter Isolationsfenstern stillgelegt – von «Einbunkern» spricht der Aargauer SP-Nationalrat Urs Hofmann.

Es droht bald noch mehr Bahnlärm

Vergeblich rügte die Interessengemeinschaft gegen Eisenbahnlärm (IGLS) die Vorlage, «die die Versprechungen nicht einhält». Das Parlament steht hinter dem Konzept. «Es macht keinen Sinn, wenn ein einzelner Weiler durch kilometerlange Lärmschutzwände geschützt wird», so Moritz Leuenberger im Nationalrat.

Bereits droht neues Ungemach. Nach Gesprächen mit den SBB und dem Bund befürchtet die IGLS zusätzlichen Lärm auf den Schienen. So planen die SBB offenbar, auf stark belasteten Strecken schwerere Gleise zu verlegen – plus drei Dezibel Lärm. Und weil der Schwerverkehr von der Strasse auf die Schiene verlagert werden soll, dürfte auch der Bahnlärm weiter zunehmen – plus sechs Dezibel. IGLS-Präsident Zacharias Büchi plagt noch eine Sorge: «Solange das ausländische Rollmaterial nicht auch saniert wird, geht der Lärm nicht im gewünschten Mass zurück.»

Als wäre all dies nicht genug: Auch der behördliche Lärmschutz steht zurzeit auf wackligen Beinen. Die Eidgenössische Materialprüfungsanstalt (Empa) soll auf einen Kernbereich konzentriert werden, in dem die Abteilung Akustik/Lärmbekämpfung keinen Platz mehr hätte. Die Empa-Leitung erwägt, die Forschungs-, Prüf- und Beratungsstelle zu privatisieren oder zu zerschlagen. «Damit würde die einzige Instanz verloren gehen, die neutrale Lärmgutachten verfassen kann», kritisiert die Aargauer SP-Nationalrätin Doris Stump.

Genug der Niederlagen, sagte sich Armin Braunwalder. Der Urner und Geschäftsführer der Schweizerischen Energiestiftung will eine nationale «Allianz für Lärmschutz» gründen. «Lokale und regionale Bürgerinitiativen können sich offensichtlich allein nicht gegen die Interessen der Wirtschaft durchsetzen», stellt Braunwalder fest. Deshalb möchte er die Kräfte rund um die Flughäfen, entlang den Bahnlinien und im Urnerland bündeln und professionell kämpfen. «Damit kann das Unterstützungspotenzial in der Bevölkerung beträchtlich erhöht werden.»

«Koalition der Lärmgeplagten»

Noch ist das Projekt kaum mehr als eine Idee. Doch im Urnerland ist das Interesse gross. Und in der «Neuen Luzerner Zeitung» gab es bereits prominente Schützenhilfe. «Uri hat nur eine Chance, wenn es sich mit anderen lärmgeplagten Regionen solidarisiert und zusammentut», sagte der Politberater Iwan Rickenbacher. Und der Berner Politologe Adrian Vatter meinte: «Es braucht eine Koalition der Lärmgeplagten.»

Daran muss eigentlich das ganze Land ein Interesse haben. Denn der Lärm kostet die Gesellschaft viel Geld. Das Buwal schätzte 1993 die jährlichen Kosten auf rund drei Milliarden Franken. Dazu gehören: Investitionen in den Schallschutz, Arzt- und Medikamentenkosten, der Wertverlust von Liegenschaften oder so genannte Lärmfluchtkosten. Denn wer am Wochenende in die Stille pilgert oder seinen Wohnsitz lärmbedingt ins Grüne verlegt, hat erstens höhere Transportkosten für Arbeit, Freizeit und Einkauf – und produziert zweitens neuen Lärm.

Mit dieser Spirale erobert der Lärm auch die letzten stillen Winkel. «Die Schallspitzen sind weniger extrem als früher. Dafür wird es in bisher verschonten Gebieten laut», sagt der Buwal-Fachmann Urs Jörg. Denn selbst in der vermeintlich einsamen Bergwelt röhrt ein Motorrad, dröhnt ein CD-Player und brummt ein Motorflieger. Das hat auch der Feldbiologe Georg Artmann festgestellt, der in seiner Arbeit häufig auf Laute von Tieren lauscht. «Dauernd wird meine akustische Wahrnehmung durch ein technisches Geräusch gestört», klagt er.

Schaffung von Ruhereservaten

Dasselbe ist dem Luzerner Umweltbeamten Beat Marty aufgefallen: «Lärmfreie Räume sind im Gesetz gar nicht vorgesehen.» Nach zehn Jahren Lärmschutzverordnung wäre es «vielleicht nicht schlecht, den Lärmschutz wieder grundsätzlich anzuschauen», sagt der Präsident des Fachbeamtenverbands «Cercle bruit». Denn auch Parks oder Spielplätze geniessen keinen speziellen Lärmschutz. Marty schwebt etwas Konkretes vor: «Vielleicht müsste man Ruhereservate schaffen.»

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https://www.beobachter.ch/wohnen/nachbarn/nachbarschaftsstreit-wie-krach-zu-krach-fuhrt

Wie Krach zu Krach führt

Lärm ist lästig, raubt den Schlaf und macht krank. Und Lärm verändert die Persönlichkeit der Betroffenen. Weil die Belästigung gelegentlich das zumutbare Mass weit überschreitet.Von

21. Oktober 2005 - 15:33 Uhr

«Als ich Jugendlicher war, hätte ich wohl auch nicht mein Nachbar sein wollen», meint Karl Barsch (Name geändert) am Schluss des Beratungsgesprächs nachdenklich. Vielleicht sei es ja nichts als gerecht, dass er heute selbst unter Lärmbelästigung leide, erklärt er der Beraterin Annalies Dürr von der Zürcher Stiftung Domicil, die sich der Förderung der Wohnqualität verschrieben hat.

Schliesslich habe er damals die von starker Migräne geplagte Nachbarin seines Elternhauses auch gehörig mit lauter Musik und Unflätigkeiten gepeinigt. Annalies Dürr schüttelt nur den Kopf. «Eine Wohnung ist etwas sehr Intimes. Dahin will man sich zurückziehen, sich abgrenzen können», sagt sie. «Eine Wohnung ist wie eine zweite Haut. Unter diesem Gesichtspunkt kann Lärm nicht gerecht sein.»
 

Früher regierten die Hausmeister               (auch in Zügen ist man Freiwild ohne Zugspersonal, Anmerk. von W. Reuss)

Seit bald zehn Jahren wohnt Karl Barsch nun schon in einer einfachen und günstigen Genossenschaftswohnung in Zürich-Wiedikon. Es ist ein klassisches, sozial stark durchmischtes Stadtquartier. Hier wohnen Junge und Alte, Arme und Erfolgreiche, Singles und Familien, Ausländer und Superschweizer – nebeneinander und miteinander.

Als Barsch an der Rotachstrasse einzog, sorgte noch ein altes Hauswartehepaar für Ruhe und Ordnung. Es herrschte ein eisernes Regime: Waschen am Wochenende war strengstens verboten, das Treppenhaus hatten die Mieter selber zu putzen, die Fensterbänke mussten freigehalten und die Velos am Sonntag im Keller verstaut werden. Warum, konnte einem niemand erklären. Es war, wie es war.

Allfällige Verstösse gegen die geltenden Regeln wurden mit Zurechtweisungen in erhobener Stimme geahndet, die das Treppenhaus jeweils hundertfach widerschallen liess. Doch die günstigen Mietzinsen machten es Karl Barsch leichter, über diese Standpauken hinwegzusehen.

Irgendwann schien auch dem Hauswartehepaar das Reklamieren und Ermahnen vergangen zu sein, und so zog es nach über 30 Jahren Hausherrschaft weg. Doch jetzt hielt an der Rotachstrasse das nächstgrössere Ärgernis Einzug: eine allein erziehende Mutter brasilianischer Herkunft mit ihrem schwer pubertierenden Sohn.

«Die Erste, die die Wände hochging, war die Ärztin von zuoberst», erzählt Barsch. Sie wohnt direkt über den Neuzuzügern. Lange, anspruchsvolle Arbeitstage und ein unregelmässiger Dienstplan – der Alltag verlangt ihr viel ab. Wenn sie endlich Feierabend hat, dürstet die Ärztin nur nach einem: nach Ruhe.

Doch damit ist es von nun an vorbei. Künftig muss zu allen Tages- und Nachtzeiten mit störender Unbill gerechnet werden: rauschende Partys unter der Woche, Stöckelschuhgeklapper mitten in der Nacht, wummernde Hiphop-Beats rund um die Uhr.

Reklamationen der Ärztin quittiert die junge Mutter mit dem Generalvorwurf des Rassismus: Sie sei halt aus einer anderen Kultur, das müsse man respektieren. Ist der Sohn allein zu Hause, öffnet er nicht einmal die Tür und lärmt fröhlich weiter.

 

Ein Gespräch mit Scheinlösung

Schon wenige Wochen nach Einzug der Neuen ist die Ärztin am Rand eines Nervenzusammenbruchs. Nach einem halben Jahr will sie ausziehen. Es muss etwas getan werden. Karl Barsch, vom Lärm nicht direkt betroffen, da er auf der anderen Seite des Treppenhauses wohnt, bietet sich als Schlichter an. «Ausziehen? Kommt nicht in Frage! Man darf sich doch nicht einfach verdrängen lassen», so Barsch.

Das Gespräch mit der Mutter verläuft hoffnungsvoll. Man sitzt am selben Tisch, trinkt ein Bier und schwatzt. Die Mutter erklärt sich, verweist auf den Umstand, dass sie halt eben Brasilianerin sei und allein erziehend und dass die anderen deswegen Toleranz üben müssten. «Klar», erwidert Karl Barsch, aber Toleranz sei keine Einbahnstrasse. «Toleranz ist nur gegen Rücksicht zu haben», so seine Überzeugung. Man einigt sich darauf, künftig besser aufeinander zu achten. Und tatsächlich herrscht einige Wochen lang Ruhe. Es ist die Ruhe vor dem Sturm.
 

Die Vermieter drücken sich

«Es mag banal klingen, aber dass Konfliktparteien miteinander sprechen, ist sehr wichtig», erklärt Annalies Dürr von Domicil. Gerade im interkulturellen Bereich sei es entscheidend, dass sich Mieter ein bisschen kennen. Denn oft sind bei Nachbarschaftskonflikten Missverständnisse und Vorurteile im Spiel. Sprache spiele dabei eine grosse Rolle. Fast die Hälfte aller Beratungsgespräche von Domicil drehen sich um Lärmprobleme in der Nachbarschaft. «Eigentlich ist es unverständlich, dass sich die Vermieter nicht besser darum kümmern, die neuen Mieter den alten vorzustellen», so Dürr. Schliesslich seien Mieter Kunden – es könne doch nur im Interesse der Vermieter sein, dass in ihren Häusern Frieden herrsche.

Tatsächlich fühlen sich laut Gesundheitsbefragung 2002 des Bundesamts für Statistik gut 17 Prozent aller Schweizer durch Lärm von Nachbarn gestört. In Kantonen mit hohem Anteil an städtischer Bevölkerung wie Zürich, Basel-Stadt oder in den Tessiner Agglomerationen leiden deutlich mehr Menschen unter Nachbarschaftslärm als in Kantonen mit ländlicher Bevölkerung. Im Kanton Genf fühlen sich 27 Prozent der Leute durch den Lärm von Nachbarn belästigt – schweizweit ein Spitzenwert: Lärm wird als umwelt- und gesundheitsrelevante Grösse unterschätzt.

Es geschieht am Tag der Streetparade – einem Tag, an dem sich Zürcher gewohnt sind, einiges an Lärmbelastung in Kauf zu nehmen. Exakt um 5 Uhr 30 in der Frühe verwandeln sich die Mauern der Rotachstrasse in «Radio Energy». Die ganze Strasse steht im Bett. Alle sind wach. Ausser jene, die den Lärm verursachen. Rufen, Klopfen, Kratzen – da hilft alles nichts, die Tür bleibt stumm, die Wohnung gellend laut. Bis Karl Barsch zum ersten Mal in seinem Leben die Polizei ruft.

Die Polizisten müssen lachen, als sie das Treppenhaus betreten. «Ein lustiges Nachtvölkchen hier», stellen sie ironisch fest. Dann hämmern sie mit ihrem Mehrzweckstock an die verschlossene Tür, dass es allen Anwesenden angst und bang wird. Nach einiger Zeit öffnet die Mutter die Tür, verschlafen, irritiert. Alle schauen sie die Krach machende Nachbarin an, und es galoppiert die Fantasie: «Wie verladen muss man sein, um bei diesem Lärm schlafen zu können», denkt sich Barsch. Als er der Mutter am nächsten Tag erklärt, dass er es gewesen sei, der die Polizei gerufen habe, ist die Zeit des Dialogs vorbei. Die Toleranzgrenze sinkt von Tag zu Tag.

 

Wie die Freude im Lärm untergeht

Ein halbes Jahr später übernimmt Barsch eine grössere Wohnung im selben Haus. Es ist ein richtiger Glücksfall – das glaubt er zumindest. Die neue Wohnung befindet sich zuoberst im Haus. Sie ist erheblich heller und hat ein kleines, charmantes Zimmer mehr als die alte Wohnung. Was Barsch aber nicht weiss, weil der Grundriss des alten Hauses arg verwinkelt ist: Sein neues Zimmerchen liegt direkt über jenem des pubertierenden brasilianischen Sohns. Die Stunde der Wahrheit kommt bereits am Samstagabend nach dem Einzug und nach einer langen Arbeitswoche kurz vor 18 Uhr, als sich Barsch das Recht nimmt und eine Etage tiefer geht. «Machst du bitte die Musik etwas leiser?», fragt er. «Warum?», erwidert der Krachmacher. «Weil es mich stört», sagt Barsch. «Hey, das isch mir scheissegal!», hustet der Junge. «Ich bin jung. Ich muess läbe», bellt er und schlägt die Wohnungstür zu. Barsch, stumm, kocht vor Wut.
 

Der Lärm geht an die Substanz

Der Brief, den Barsch am nächsten Tag per Einschreiben an die Mutter und den Hausverwalter schickt, bleibt unbeantwortet. Der Verwalter mag sich mit dem Fall nicht beschäftigen. Er empfiehlt, sich jeweils direkt an die 117 zu wenden. «Die Polizei kommt nur ein-, zweimal – das wird sehr schnell sehr teuer», meint er lapidar. Wenn es den Menschen ans Portemonnaie gehe, reagieren die meisten sehr rasch. «Die Polizei steckt klare Grenzen ab», sagt auch Annalies Dürr. Wenn die Ordnungshüter auftauchen, ist allen klar, dass nun fertig lustig sei. Aber wann ist dieser Schritt gerechtfertigt?

«An der ganzen Situation wurmt mich am meisten, dass ich nicht mehr in der Lage bin, diesen Konflikt distanziert anzugehen. Dass ich nicht mehr der nüchterne Aussenstehende bin, der ich einmal war», erklärt Barsch. «Heute gehe ich schon wegen der kleinsten Störung an die Decke. Zumindest sofern sie von der jungen Familie kommt», sagt er.

«Was müsste denn geschehen, damit Sie sich in Ihrer Wohnung wieder wohl fühlen?», fragt Annalies Dürr zum Schluss des Gesprächs. «Eigentlich nicht viel. Ich möchte nur das Recht haben, sagen zu dürfen, wenn ich mich gestört fühle, und wissen, dass ich damit auf Resonanz stosse», sagt Barsch.

Laut Dürr bewähren sich in solchen Fällen Haussitzungen, an der die Wohnparteien ihre Bedürfnisse einbringen können und ein Reglement geschaffen werden kann, das allen gerecht wird. «Es ist doch absurd, in einem Haus mit Kindern Ruhezeiten von 12 bis 14 Uhr durchsetzen zu wollen, wie es die meisten Hausordnungen vorsehen», sagt Dürr. Aber eben: Für Haussitzungen bräuchte es die Einsicht aller, dass sich etwas ändern muss. Und davon ist man im Haus von Karl Barsch weit entfernt. Es herrscht das Recht des Lauteren.

«Seit neustem dengelt jemand im unteren Stock nachts mit etwas Metallischem an der Heizung», erzählt Barsch. Die Frage sei jeweils nur noch, was einem mehr Schlaf raube: dieses nervige und durchdringende Ding-ding-diding des Heizkörpers oder – falls man sich zur Reklamation überwindet – der Ärger darüber, dass man sich schon wieder habe anschnoddern lassen müssen.
 

Organisationen

 

  • Stiftung Domicil, Kanzleistrasse 80, 8004 Zürich, Telefon 044 245 90 25, Fax 044 245 90 39; Internet: www.domicilwohnen.ch
  • Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft (Buwal), Abteilung Lärmbekämpfung, 3003 Bern, Telefon 031 322 92 49; E-Mail: noise@buwal.admin.ch; Internet: www.umwelt-schweiz.ch
  • Cercle Bruit Schweiz, Vereinigung kantonaler Lärmschutzfachleute, c/o Amt für Umweltschutz des Kantons Luzern, Postfach, 6002 Luzern; E-Mail: beat.marty@lu.ch; Internet: www.cerclebruit.ch
  • Tiefbauamt des Kantons Zürich, Fachstelle Lärmschutz, Europa-Strasse 17, 8152 Glattbrugg; Telefon 044 809 91 51, Fax 044 809 91 50; E-Mail: fals@bd.zh.ch; Internet: www.laerm.zh.ch








 


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