Wenn sich Jürg Fässler abends zur Ruhe legt, wird es nie still. Ein Pfeifen im linken Ohr stört den Schlaf. «Wie 1000 Grillen im Kopf», sagt der Chemiker. Jürg Fässler ist ein «Dezibel-opfer». Mit Gehörschutz ausgerüstet, sah er sich 1997 die Zürcher Street-Parade an. Die Musik war sehr laut. Das leichte Pfeifen nach dem Fest beunruhigte ihn vorerst nicht, doch plötzlich war er extrem geräuschempfindlich. Diagnose: Gehörschaden – bis heute nicht behandelbar.
An einer schweren Herzkrankheit leidet der Rentner Hans G. Das Fenster seines Schlafzimmers öffnet sich gegen den Parkplatz eines Restaurants. Immer wieder reissen ihn Gespräche, Gelächter oder knallende Autotüren aus dem Schlaf. Für die Ärzte ist klar: Ausgelöst wurde die Krankheit durch die «lärmbedingten dauernden Schlafstörungen».
Immer grösseres Umweltproblem
Die
beiden Männer sind offensichtliche Lärmopfer. Noch weiter verbreitet
aber ist das stille Leiden. Das zeigt eine neue Analyse. «64 Prozent der
Schweizer fühlen sich an einem oder mehreren Orten durch Lärm gestört»,
schreibt der Sozialpsychologe Alexander Lorenz in seiner Doktorarbeit.
In einer repräsentativen Umfrage hörte sich Lorenz bei rund 1000
Personen um. Fazit: Der Lärm des Strassenverkehrs wird zusammen mit den
Autoabgasen als grösstes Umweltproblem im Land wahrgenommen. Ein
detaillierter Blick auf die Resultate offenbart ein vielschichtiges
Bild:
Lärmschutz kostet viel Geld
Eine ernüchternde Bilanz. Eigentlich müsste die Lärmschutzverordnung (LSV) von 1986 die Bevölkerung «vor schädlichem und lästigem Lärm schützen». Erfüllt ist das Postulat auch nach bald 15 Jahren bei weitem nicht. «Der Lärmschutz ist ein Kostenfaktor, dessen man sich gern entledigen möchte», sagt der Akustiker Robert Hofmann.
Ein Blick auf die Strasse offenbart die Misere. Rund 80 Prozent des störenden Lärms verursacht der Verkehr – allen voran Autos, Lastwagen und Motorräder. 30 Prozent der Bevölkerung sind einem Strassenlärm ausgesetzt, der laut dem Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft (Buwal) «als kritisch bezeichnet werden muss». Bis Ende 2002 müsste dieses Problem laut LSV beseitigt sein – mit neuen Strassenbelägen, tieferem Tempo, Schutzwänden oder Isolationsfenstern. Doch sind erst rund 35 Prozent der Strassen saniert – die Frist muss verlängert werden.
Die Situation ist vertrackt. Von «massiven Versäumnissen der Kantone und Gemeinden» spricht der Verkehrs-Club der Schweiz (VCS). Tatsächlich stecken die Planer das knappe Geld lieber in neue Strassen als in Lärmbauten. Hinzu kommen praktische Probleme. «Innerorts fehlt häufig das vernünftige Rezept», sagt Beat Marty vom Luzerner Amt für Umweltschutz. Wände kommen selten in Frage, und Schallschutzfenster sind laut Marty «eigentlich eine unbefriedigende Symptombekämpfung». Eine weitere Schwierigkeit: «Die Zunahme des Verkehrs macht viele Massnahmen sofort wieder zunichte», sagt Urs Jörg, Chef Lärmbekämpfung im Buwal.
Es kommt noch schlimmer. In einer neuen Umfrage sagen 100 Fachleute voraus, dass der Trend zu noch mehr Mobilität ungebrochen anhält. So soll der Verkehr bis zum Jahr 2020 auf Strasse und Schiene um über 30 Prozent zunehmen – in der Luft gar um fast 60 Prozent. Die Experten haben deshalb «wenig Hoffnung», dass sich Abgase und Lärm stark reduzieren lassen.
Schöne Worte, aber keine Taten
Auch aus der Politik kommen wenig ermunternde Signale. Zwar betonte der Bundesrat jüngst, dass er «der Lärmschutzproblematik grosse Bedeutung beimisst». Sobald es aber konkret wird, sieht die Sache anders aus.
Erstes Beispiel: die Flughäfen. Im April fixierte der Bundesrat den Lärmgrenzwert für Flughäfen bei 65 Dezibel – die Expertenkommission hatte 60 Dezibel vorgeschlagen. Die neuen Vorgaben ermöglichen bis zu dreimal mehr Starts und Landungen. Und: Die Flughafenbetreiber sparen viele hundert Millionen Franken für Schallschutzfenster. «Die Privilegierung erfolgt aus wirtschaftlichen Gründen», räumte Umweltminister Moritz Leuenberger ein. Der Flughafen Zürich sei für die Schweiz «von herausragender Bedeutung».
Der Aufschrei war laut – speziell im Raum Zürich. Mit der Regierung «gar nicht einverstanden» ist auch der Physiker Robert Hofmann, Mitglied der Expertenkommission. «Die aus der Störung abgeleiteten Grenzwerte dürfen nicht durch Machbarkeitskriterien manipuliert werden», sagt der Akustiker. «Sonst verlieren sie ihre Grundlage.»
Was Robert Hofmann als «ominöse politische Justierung von Grenzwerten» umschreibt, ist allerdings nicht neu. Jede Lärmquelle wird nach einer anderen Methode gemessen und berechnet. Der Dauerlärm einer Strasse kann nicht direkt mit den kurzen Knallern im Schiessstand verglichen werden. Das gibt Spielraum.
Hofmanns süffisantes Fazit: Der Grenzwert der Strasse sei «ziemlich sauber», die Bahn dagegen habe «einen saftigen Bonus» erhalten. Die Schützen wiederum hätten «durch aufopferndes Lobbying im Parlament zwei Dezibel geholt». Diesen Moment habe die Industrie verschlafen und sei «mit einem Malus von fünf Dezibel erwacht». Dafür habe sich die Militärfliegerei «einen stattlichen Bonus gefischt».
«Einbunkern» der Opfer
Zweites Beispiel: die Neat. Im Juni endete die «umfassende Interessenabwägung» der Regierung mit einer Niederlage für den lärmgeplagten Kanton Uri. Statt die Neat-Bahnlinie in der Reussebene unterirdisch zu führen, beschloss der Bundesrat eine offene Talvariante. Die geplante Überholanlage beim Tunnelportal Erstfeld könne bei der Bergvariante nicht gebaut werden, hiess es. Diese sei aber notwendig, damit «die erforderliche Güterkapazität bereitgestellt» werden könne. Dennoch will der Bundesrat die Anliegen Uris «sehr, sehr ernst» nehmen. Nicht zum ersten Mal fühlt sich die Urner Regierung buchstäblich «überfahren».
Drittes Beispiel: der Bahnlärm. Rund 265000 Personen sind übermässigem Bahnlärm ausgesetzt. Für die Sanierung versprach der Bundesrat 1998 vor dem Neat-Urnengang ein «Kostendach von 2,3 Milliarden Franken». Geplant sind der Umbau der Waggons und Lokomotiven bis ins Jahr 2009 sowie Lärmschutzwände und Schallschutzfenster bis 2015.
Bereits drei Monate später war der Betrag auf 1,8 Milliarden gesunken. Das Ziel sei billiger zu erreichen, hiess es – und zwar «aufgrund des technischen Fortschritts, vor allem beim Rollmaterial». Doch statt mit dem Geld zusätzliche Lärmschutzwände zu bauen, wird fast ein Drittel der Betroffenen hinter Isolationsfenstern stillgelegt – von «Einbunkern» spricht der Aargauer SP-Nationalrat Urs Hofmann.
Es droht bald noch mehr Bahnlärm
Vergeblich rügte die Interessengemeinschaft gegen Eisenbahnlärm (IGLS) die Vorlage, «die die Versprechungen nicht einhält». Das Parlament steht hinter dem Konzept. «Es macht keinen Sinn, wenn ein einzelner Weiler durch kilometerlange Lärmschutzwände geschützt wird», so Moritz Leuenberger im Nationalrat.
Bereits droht neues Ungemach. Nach Gesprächen mit den SBB und dem Bund befürchtet die IGLS zusätzlichen Lärm auf den Schienen. So planen die SBB offenbar, auf stark belasteten Strecken schwerere Gleise zu verlegen – plus drei Dezibel Lärm. Und weil der Schwerverkehr von der Strasse auf die Schiene verlagert werden soll, dürfte auch der Bahnlärm weiter zunehmen – plus sechs Dezibel. IGLS-Präsident Zacharias Büchi plagt noch eine Sorge: «Solange das ausländische Rollmaterial nicht auch saniert wird, geht der Lärm nicht im gewünschten Mass zurück.»
Als wäre all dies nicht genug: Auch der behördliche Lärmschutz steht zurzeit auf wackligen Beinen. Die Eidgenössische Materialprüfungsanstalt (Empa) soll auf einen Kernbereich konzentriert werden, in dem die Abteilung Akustik/Lärmbekämpfung keinen Platz mehr hätte. Die Empa-Leitung erwägt, die Forschungs-, Prüf- und Beratungsstelle zu privatisieren oder zu zerschlagen. «Damit würde die einzige Instanz verloren gehen, die neutrale Lärmgutachten verfassen kann», kritisiert die Aargauer SP-Nationalrätin Doris Stump.
Genug der Niederlagen, sagte sich Armin Braunwalder. Der Urner und Geschäftsführer der Schweizerischen Energiestiftung will eine nationale «Allianz für Lärmschutz» gründen. «Lokale und regionale Bürgerinitiativen können sich offensichtlich allein nicht gegen die Interessen der Wirtschaft durchsetzen», stellt Braunwalder fest. Deshalb möchte er die Kräfte rund um die Flughäfen, entlang den Bahnlinien und im Urnerland bündeln und professionell kämpfen. «Damit kann das Unterstützungspotenzial in der Bevölkerung beträchtlich erhöht werden.»
«Koalition der Lärmgeplagten»
Noch ist das Projekt kaum mehr als eine Idee. Doch im Urnerland ist das Interesse gross. Und in der «Neuen Luzerner Zeitung» gab es bereits prominente Schützenhilfe. «Uri hat nur eine Chance, wenn es sich mit anderen lärmgeplagten Regionen solidarisiert und zusammentut», sagte der Politberater Iwan Rickenbacher. Und der Berner Politologe Adrian Vatter meinte: «Es braucht eine Koalition der Lärmgeplagten.»
Daran muss eigentlich das ganze Land ein Interesse haben. Denn der Lärm kostet die Gesellschaft viel Geld. Das Buwal schätzte 1993 die jährlichen Kosten auf rund drei Milliarden Franken. Dazu gehören: Investitionen in den Schallschutz, Arzt- und Medikamentenkosten, der Wertverlust von Liegenschaften oder so genannte Lärmfluchtkosten. Denn wer am Wochenende in die Stille pilgert oder seinen Wohnsitz lärmbedingt ins Grüne verlegt, hat erstens höhere Transportkosten für Arbeit, Freizeit und Einkauf – und produziert zweitens neuen Lärm.
Mit dieser Spirale erobert der Lärm auch die letzten stillen Winkel. «Die Schallspitzen sind weniger extrem als früher. Dafür wird es in bisher verschonten Gebieten laut», sagt der Buwal-Fachmann Urs Jörg. Denn selbst in der vermeintlich einsamen Bergwelt röhrt ein Motorrad, dröhnt ein CD-Player und brummt ein Motorflieger. Das hat auch der Feldbiologe Georg Artmann festgestellt, der in seiner Arbeit häufig auf Laute von Tieren lauscht. «Dauernd wird meine akustische Wahrnehmung durch ein technisches Geräusch gestört», klagt er.
Schaffung von Ruhereservaten
Dasselbe ist dem Luzerner Umweltbeamten Beat Marty aufgefallen: «Lärmfreie Räume sind im Gesetz gar nicht vorgesehen.» Nach zehn Jahren Lärmschutzverordnung wäre es «vielleicht nicht schlecht, den Lärmschutz wieder grundsätzlich anzuschauen», sagt der Präsident des Fachbeamtenverbands «Cercle bruit». Denn auch Parks oder Spielplätze geniessen keinen speziellen Lärmschutz. Marty schwebt etwas Konkretes vor: «Vielleicht müsste man Ruhereservate schaffen.»